Die geheimen Worte by Martin Rebecca
Autor:Martin, Rebecca
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-03-11T00:00:00+00:00
Siebzehntes Kapitel
Frankfurt am Main, Juni 1923
Vor einem Besuch bei Katharina, den Adrian vorschlug, schreckte Marlene dann aber doch zurück. Was, wenn sie mit dem, was sie sehen würde, nicht zurechtkam? Was, wenn sie sich lächerlich machte? Adrian hatte Andeutungen gemacht, aber Marlene wusste einfach nicht, was sie erwartete. Nachdem sie allerdings an jenem Abend vorgeprescht war, gab es bald keine Ausreden mehr. Es war unmöglich, sich zu entziehen, wenn sie zeigen wollte, dass sie kein verwöhntes Mädchen aus wohlhabendem Haus war, das nichts vom wahren Leben wusste oder wissen wollte.
Auf dem Weg zu Katharinas Heim stockte ihr immer wieder der Atem. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was Mama sagen würde, wenn sie wüsste, wo sich ihre Tochter befand.
Die Gegend, durch die Adrian sie führte, erschien Marlene noch weit übler als die, in der Adrians und Noras Wohnung lag. Eigentlich hatte Marlene das kaum für möglich gehalten, doch sie wurde mit jedem Schritt eines Besseren belehrt. Die Straßen waren schmutzig. Es gab offene, stinkende Kanäle. An einer Stelle befand sich etwas Schmieriges auf der Straße, sodass Marlene fast ausgeglitten wäre, hätte sie Adrian nicht mit einem Griff festgehalten.
Es schien ihm keine Mühe zu bereiten, sie zu halten. Er war kräftiger, als es den Eindruck machte. Sie fragte sich, wie sein Körper unter der Kleidung aussah, und errötete.
»Danke«, brachte sie trotzdem hervor.
Er tippte ihr gegen die erhitzten Wangen.
»Ihr höheren Töchter regt euch aber auch über alles auf. Wärst du lieber hingefallen?«
»Nein, ich …« Marlene brach ab. Keinesfalls konnte sie ihm sagen, worüber sie eben nachgedacht hatte. Dazu war sie nun doch zu sehr »höhere Tochter«. »Danke noch einmal«, fügte sie mit festerer Stimme hinzu.
»Nichts zu danken.«
Sie gingen weiter. Adrian blieb nah bei ihr, vielleicht, um sie von weiteren Stürzen abzuhalten, vielleicht auch in der Hoffnung, sie noch einmal berühren zu können – ein Gedanke, der Marlene gefiel, aber wahrscheinlich dem Reich der Fantasie entsprang, wie sie befürchtete.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebung, auch wenn es ihr schwerfiel. Adrian schritt so dicht neben ihr, dass Marlene seine Körperwärme spürte, und es brauchte nur wenig, um seine Hand zu berühren und seine Haut zu spüren.
Sie atmete tief durch und sah sich um. Dünne, bleiche, verdreckte Kinder vergnügten sich hier alleine vor den Häusern, einige barfuß, ein paar in Kleidungsstücken, die ihnen deutlich nicht mehr passten. Ein Mädchen mit schmutzig blondem Haar und eines mit schmerzhaft eng geflochtenen schwarzen Rattenschwänzchen spielten Hickelkästchen.
Marlene erinnerte sich unwillkürlich daran, das früher auch getan zu haben. Sogar das Klackern des Steins, der in die Kästchen gezielt wurde, war ihr noch präsent. Offenbar war sie unwillkürlich langsamer geworden, denn Adrian drehte sich jetzt zu ihr herum.
»Hast du Angst? Schaffst du es, oder möchtest du doch wieder nach Hause?«
Die Art, wie er »Angst« und »nach Hause« aussprach, reizte Marlene. Sie straffte die Schultern und beschleunigte ihren Gang.
»Natürlich schaffe ich es.« Sie nickte zu den spielenden Mädchen hin. »Ich habe mich nur gerade an früher erinnert.«
Adrian betrachtete die Mädchen, nickte dann verstehend.
»Ach das, das haben meine Schwester und ich auch gespielt.
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